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Das war Absicht! Alle Stimmen in seinem Kopf waren ausgeschaltet. Pure Absicht! Keine Stimme der Mutter, die warnt: „Junge, pack dich gut ein! Nimm einen Schal vom Regal! Knöpf die Jacke höher zu!“.

Keine Stimme des Vaters: „Lass diesen Unsinn! Benimm dich nicht wie ein Kind!“ Und: „Was soll das denn jetzt wieder?“

Alle Stimmen in seinem Kopf schwiegen. Sie schwiegen nicht, weil sie sich zufrieden gaben, oder gar nicht mehr existierten. Nein, sie schwiegen, weil sie sich nicht trauten in diesem Augenblick ihre Stimme zu erheben. Andächtig senkten die in seiner Erinnerung lebenden Figuren den Kopf und schauten zu Boden, ließen ihn gewähren.

Er stand mit einem dem Wetter völlig unangemessen aufgeknöpften Sommermantel an der Hafenkante und hielt sein Gesicht in den stürmisch peitschenden Regen.

Es hätte wie Trotz aussehen können, oder wie jemand, der versäumte Kindheit nachholt.

Aber es war anders. Es war keine revolutionäre Haltung, kein Protest gegen sein Leben. Alles hing an einer kleinen Erinnerung. Und an einer kleinen Sache, die sich in seiner linken Backe befand. Es war verrückt, aber alle guten Tage seines Lebens durchströmten ihn zum zweiten Mal, eben wegen dieses kleinen schwarzen Stück Salmiaks in seiner Wange. Sein Großvater stand so lebendig wie schon lange nicht mehr vor seinem inneren Auge und schaute mit ihm über die Hafenkante.

Er beugte sich zu ihm herunter, so, wie er es immer getan hatte. Seine weißen Barthaare berührten dabei kitzelnd sein Ohr, dass er es in diesem Augenblick förmlich spüren konnte. „All diese modernen Kreuzer, so ein Tüddelkram! Junge, auf solch einem Kutter wie da drüber bin ich gefahrn. Sieben Mal in meinem Leben, sieben Mal. Und wenn Du groß bist, Jung, dann werd ich dir einmal erzählen, was ich alles dabei erlebt habe. Aber, ich sach dir, das ist Nüscht für kleene Jungs. Da muss man alle Sinne beieinander haben, wenn man die Geschichte hören will!“ Und er starrte einen Moment lang auf die See. Beide taten sie es.

Dann kramte der alte weiße Mann mit den hellblau strahlenden Augen in der Innentasche seines abgewetzten Kulanis und zog eine knisternde braune Papiertüte hervor und der Junge sah eines in seinen Augen – und er kannte damals kein Wort dafür-, aber heute, heute hatte er das Wort endlich gefunden und es fühlte sich richtig an: Wehmut.

„Junge, auch wenn du von meinen Geschichten noch verschont bleibst, du könntest ja auch in der Schule an nichts anderes mehr denken – Gott bewahre…! Trotzdem habe ich etwas für dich von meiner Reise mitgebracht. Ein kleiner Geschmack der großen weiten Welt.“

Er kramte etwas kleines eckiges Schwarzes aus der Tüte. „Mach die Döppen zu und die Luke auf!“, wies der Alte an und das sagte er immer, wenn er wollte, dass die Kinder etwas essen. Darauf hätte sich keines der Kinder Widerworte getraut. Und so ließ sich auch der Junge das kleine schwarze Kissen von seinem Großvater vorsichtig auf die Zunge legen. Von niemand anderem hätte er das mit sich machen lassen. Aber dieser Großvater mit seinen unerschütterlichen sehnsüchtigen Augen, der hatte sein volles Vertrauen. Er wäre selbst mit ihm auf dem klapprigsten Kutter in den Sturm gefahren, in dem kindlichsten Vertrauen in diesen Mann. Der Kahn hätte kentern können, aber dieser Großvater hätte ihn sicher noch auf den Schultern durch die stürmische See an Land gebracht und ihn dort abgekämpft, aber in dem ihm eigenen Ton eine „elende Landratte“ genannt. Und alles wäre gut gewesen.

 

Nie in seinem Leben hatte sich ein Geschmack so eingebrannt wie dieser, den das kleine schwarze Eck auf seiner Zunge absonderte. Wie konnte solch ein kleines Ding seinen Mund so erfüllen? Wie konnte es zugleich süß und salzig sein? Der intensive Duft von Salmiak stieg in seine Nase und er sah wie der Großvater ihn aus dem Augenwinkel beobachtete und auf einer Wange grinsen musste.

Es waren keine Worte nötig.

Nur eines – und das kam vom Großvater: „Lakritz.“, sagte er und mehr nicht.

Für den Jungen klang das fremdländisch und spannend. La-Kritz. – Das klang vorne weich und knallte am Ende. Es sollte ab heute sein liebstes Wort sein, das er mit niemandem teilen wollte.

Wie sollte er auch? Zwei Wochen später kam der Krieg und die spannenden Reiseberichte vom Kutter sollte er nie erfahren.

Heute war er gespalten. Einerseits, so dachte er, hat man ihn um diese Geschichten beraubt, andererseits hielten sie ihn sein ganzes Leben lang unter Spannung. Diese Fragen: Was hätte Großvater wohl erzählt, wenn ich alt genug gewesen wäre, wenn er länger gelebt hätte, wenn der Krieg nie gewesen wäre… wenn, wenn, wenn.

Er selbst hatte sich diese verheißenen und nie erfüllten Erzählungen ausgedacht – und damit großen Erfolg geerntet. Heute war er ein geachteter Schriftsteller und sein Name war in aller Munde und er verdiente, sagen wir einmal, genug, um sich nicht zu beklagen.

So ganz konnte er seinen Ruhm nie genießen, denn heimlich schrieb er seinen Erfolg eben diesem Großvater zu – und seinen nie erzählten Geschichten, von deren Spannung er heute noch lebte.

Als erwachsener Mann hatte er sogar einmal Nachforschungen angestellt. Das, was er erfahren hatte, hatte ihn jedoch zu sehr aufgewühlt. Statt den Träumen von exotischen Inseln und fernen Ländern Futter zu geben, hatte er von seinem Vater erfahren, dass Großvater sieben Mal bis Dänemark gefahren sei, sich wochenlang dort herumtrieb und später für einen Hungerlohn mit einem Fischkutter wieder heimkehrte. Laut der Großmutter war er nach diesen Reisen glücklich und verwahrlost. Und musste wochenlang wieder aufgepäppelt werden.

Noch als junger Mann konnte er diesen trivialen Geschichten keinen Glauben schenken. Und er wollte es auch nicht.

Und dann der rettende Satz seines Vaters: „So richtig weiß niemand, was er dort getrieben hat!“. Das hielt alle erdachten Hoffnungen wach.

Und jetzt, den Geschmack von damals auf der Zunge, durchströmten ihn all die alten Gefühle und Erinnerungen.

Er schob alle Gedanken des Zweifels beiseite und gab sich ganz dem Salz auf seiner Zunge hin. Wie schon so oft schoss ihm der Gedanke durch den Kopf: „Gut, dass ich diese Geschichten nie erfahren habe, so sind sie zu meiner Inspiration geworden.“.

Einmal hatte ihn ein Reporter nach seinem „Lebenselixier“ gefragt. Trotzig über diese abgeschmackte Frage hatte er darauf geantwortet: „Lakritz!“.

Geschrieben von Christine Zawada, März 2011